Erdoğan hat gesehen, wessen Hand in wessen Tasche ist

Ein Blick hinter die Kulissen der türkischen Politik enthüllt Machtspiele und Machtkämpfe zwischen verschiedenen politischen Akteuren. Von der "50-plus-1-Regel" bis zu den Hintergrundakteuren in der Regierung - Kronos-Chefredakteur Doğan Ertuğrul analysiert, wie Erdoğan seine Verbündeten manövriert, welchen Einfluss die MHP hat und warum die politische Landschaft in der Türkei sich inmitten neuer Dynamiken verändert.

DOĞAN ERTUĞRUL 22 Kasım 2023 DE

Foto: Depo Photos

Erdoğan hat gesehen, wessen Hand in wessen Tasche ist. Dieser Ausdruck wird im türkischen Slang verwendet und bedeutet im Grunde genommen, dass es unklar ist, mit wem man es zu tun hat. Daher sorgte es für Aufsehen, als Erdoğan dies im Flugzeug gegenüber Journalisten im Zusammenhang mit der Diskussion über die “50-plus-1-Regel” sagte. Die “50-plus-1-Regel” bezieht sich darauf, dass der Präsident in der Türkei jetzt mehr als die Hälfte der Wählerstimmen benötigt, um gewählt zu werden. Das hat zur Folge, dass Parteien Bündnisse eingehen müssen, im Gegensatz zu früher, als eine absolute Mehrheit auch mit weniger Stimmen möglich war.

Es ist nicht notwendig, darüber lange nachzudenken. Die Krisen in der Regierung, einschließlich der Verfassungskrise, haben genau hier ihren Ursprung.

“Putschversuch” in der Türkei: Kassationshof und Verfassungsgericht im Machtkampf

Glauben Sie nicht, dass die demokratischen Mechanismen der türkischen Regierung heute reibungslos funktionieren und es nur Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen gibt. Nein, heute nehmen die verschiedenen Elemente der höchsten Gerichtsorgane, Gerichte und besonders der Sicherheitsbürokratie im Namen verschiedener Interessen und Gruppen Positionen ein.

Kommt euch das seltsam vor? Es ist aber nicht überraschend, denn politische Auseinandersetzungen in der Türkei bedeuten genau das, sowohl in der alten als auch in der heutigen Erdoğan-Türkei.

Wer sind diese Akteure? Schauen wir uns die Aussagen des neuen Vorsitzenden der CHP an. Was hat Özgür Özel gesagt, als der Mörder des armenischen Journalisten Hrant Dink freigelassen wurde? Das Buch gehört Erdoğan, aber es gibt im Hintergrund Akteure, die dieses Buch schreiben. Niemand hat ihn gefragt, wer diese im Hintergrund agierenden Akteure sind. Das ist jedoch nichts Neues. Auch niemand hat nachgefragt, als Erdoğans enger Arbeitskollege Cemil Çiçek von politischen Akteuren im Schatten gesprochen hat.

Aber Politik toleriert keine Lücken. Der MHP-Chef Bahçeli lässt auch keine Lücken zu. “50 plus 1 bleibt, wir wählen hier keinen Muhtar (deutsch: Bezirksvorsteher)”, sagte er spöttisch. Er will damit Erdoğan klarmachen, wenn er auf diesem Weg beharrt, wird es einen Preis geben. Ironischerweise musste Erdoğan Ende der 90iger Jahre auf Titelseiten der Zeitungen lesen, dass er nicht einmal Muhtar werden könne, weil das Gericht ihm damals ein Politikverbot verhängt hatte. Vielleicht will Bahçeli andeuten, dass Erdoğan ohne ihn nicht einmal Muhtar werden kann.

Alle wissen, dass es bei diesem Kampf nicht um die Stimmen der MHP-Wähler geht. Wenn das der Fall wäre, würde Erdoğan einfach wieder seinen strategischen Partner tauschen. Aber die MHP ist kein gewöhnlicher Partner. Es ist kein Geheimnis, dass Erdoğan bei jeder wichtigen Entscheidung Bahçeli konsultiert (seine Zustimmung sucht). Während “Reis” im Präsidentenpallast sein Ein-Mann-Show abzieht, besucht er öfters Bahçeli bei ihm zu Hause. Sogar viele in der AKP sind darüber verärgert, das ist auch kein Geheimnis.

Nun, woher hat Bahçeli, der mit seinen lustigen Mathe-Rechnungen von sich reden lässt, diese Macht? Das ist die eine Million Euro schwere Frage der türkischen Innenpolitik… und die Antwort darauf findet ihr im zuvor skizzierten Kontext.

Der Machtkampf in der Türkei findet nicht, wie in demokratischen Systemen, zwischen Parteien und anderen politischen Akteuren statt, sondern zwischen “inoffiziellen” politischen Akteuren. Der Wettstreit zwischen staatlichen Institutionen sowie politischen, ethnischen und gruppenbezogenen Rivalitäten innerhalb der Bürokratie prägt die politische Landschaft. Daher ist die türkische Politik seit Jahrzehnten eine Arena für den Kampf zwischen Befürwortern und Gegnern des Westens, insbesondere zwischen EU-freundlichen Kräften mit einer Nähe zu Deutschland und den USA-Anhängern.

Aber jetzt spielt sich eine neue Dynamik ab. Ein frischer Konflikt entfaltet sich zwischen erstarkenden pro-russischen, pro-chinesischen – sogar pro-iranischen – nationalistischen Bürokraten, politischen Parteien, Medien und ihren westlich orientierten Gegenspielern.

Deshalb, während das Verfassungsgericht (AYM), das eher westlich orientiert und von Gruppen unterstützt wird, die innerhalb der Regierung dem Westen näher stehen, eine Entscheidung trifft, trifft das konträre, härtere Berufungsgericht Yargıtay eine völlig entgegengesetzte Entscheidung. Ein Zug und ein Gegenzug.

Auch in der Debatte um die letzten “50 plus 1” spielt sich ein Kampf zwischen den vergleichsweise gemäßigteren, westlich orientierten Akteure der Regierung und den linken und rechten Nationalisten ab. Die Kurdenfrage, die Beziehungen zur EU und den USA, Syrien und andere außenpolitischen Angelegenheiten sind die Schlachtfelder. Ist nicht auch die Ursache für die radikalen Wendungen in der Innen- und Außenpolitik nach dem 15. Juli, wie beispielsweise mit Russland, in diesem Kampf zu finden?

Aber wo steht jetzt Erdoğan genau? Erdoğan bleibt Erdoğan. Er prüft ständig seine strategischen Partner. Er nutzt jede Gelegenheit aus, die er gegen sie findet. Und er lenkt somit seine Verbündeten. Denn er weiß, was passieren wird, wenn er die Macht verliert. Hat er nicht sogar für den Ex-Innenminister Süleyman Soylu, der von der MHP unterstützt wurde, seinen Schwiegersohn Berat Albayrak geopfert?

Ist Erdoğan von Bahçeli, den Nationalisten und den anderen Verbündeten, denen er seine Macht verdankt, unzufrieden? Zweifellos. Wenn er die Möglichkeit hätte, würde er sich so schnell wie möglich von ihnen trennen.

Kann er sich mit den pro-westlichen Akteuren in der Türkei wieder einigen? Das ist jetzt sehr schwierig. Selbst wenn er sich mit ihnen einigt, wird er glücklich sein? Wenn er glaubt, dass sie ein Risiko für seine Macht darstellen, wird er sogar zu Mephisto gehen, um eine Vereinbarung zu treffen. Das hat er bereits getan. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, wird er es wieder tun.

Takip Et Google Haberler
Takip Et Instagram