Tahiroğlu: Westen ignoriert die Siegchance der türkischen Opposition

Für die Expertin Merve Tahiroğlu werden die Sanktionverletzungen der Türkei im Zusammenhang mit Russland zum Verhängnis. Sie bewertet die kritische Rolle des Verteidigungsministers Akar. Er sei in den Beziehungen mit der NATO konstruktiv.

BİLAL BALTACI 20 Mart 2023 DE

Foto: Privat

Die Türkei steuert mit festgesteckter Bremse Richtung Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai. Die Bevölkerung wird nicht nur innenpolitisch, sondern auch außenpolitisch – möglicherweise ein letztes Mal – die Richtung bestimmen. Die autoritäre Erdoğan-Regierung sah in den letzten Jahren den Ausweg aus der wirtschaftlichen und politischen Krise im Osten. Russland und China sollten die USA und Europa ersetzen. Das ist aber nicht so einfach. Die Türkei ist seit dem Osmanischen Reich westlich ausgerichtet und ein wichtiger Bestandteil des Nordatlantik-Pakts Nato. Die Beziehung zwischen der Türkei und der NATO in den letzten Jahren war von einigen Herausforderungen geprägt. Während die Türkei ein wichtiger strategischer Partner für die NATO im östlichen Mittelmeerraum und im Nahen Osten bleibt und wichtige Beiträge zur Stabilität in der Region geleistet hat, gab es auch Meinungsverschiedenheiten und Kontroversen zwischen der Türkei und einigen NATO-Partnern. Diese umfassten den Kauf russischer S-400-Luftverteidigungssysteme, türkische Militäroperationen in Syrien, die Inhaftierung von Journalisten und Menschenrechtsaktivisten sowie türkische Explorationen nach Erdgas in umstrittenen Gebieten im östlichen Mittelmeer. Über diese Richtungsentscheidung und die Beziehungen zum wichtigsten Nato-Partner USA hat Kronos mit Merve Tahiroğlu, Programmdirektorin für die Türkei bei POMED (Project on Middle East Democracy), gesprochen.

In Europa wird nicht ernsthaft über eine mögliche Abwahl vom türkischen Langzeitmachthaber Recep Tayyip Erdoğan gesprochen. Wie sehen Sie die Chance?

Die Türkei hat in der Vergangenheit oft politische Normen gebrochen. Westliche Länder sollten sich dieser Möglichkeit bewusst sein, es wäre ein großer Fehler, diese Möglichkeit zu übersehen. Erdoğan wird alles tun um diese Wahlen zu gewinnen, jedoch muss man auch berücksichtigen, dass die Opposition ihre stärkste Zeit seit 20 Jahren erlebt. So hoch war die Wahlwahrscheinlichkeit der Opposition noch nie.

Rechnet man also in Washington schon mit einem Machtwechsel in Ankara?

Der Erdoğan Trend rückt seinem Ende zu. Die Amerikaner sind sich dessen mehr bewusster als die Europäer. In der Türkei gibt es eine pessimistische Sichtweise, die sich auch in Europa widerspiegelt.

Türken haben schließlich in der Wahlnacht von Katzen ausgelöste Kurzschlüsse und darauffolgende Blackouts erlebt.

Die Wahlen werden sicherlich nicht fair sein. Daher ist es umso wichtiger, dass der Westen die Siegchance der Opposition nicht ignoriert. Internationale Beobachter werden eine wichtige Rolle bei diesen Wahlen spielen. Sie müssen gut vorbereitet sein.

Merve Tahiroğlu (m) mit Henry Barkey (r) und Gönül Tol

Welche Namen der Opposition fallen in Small-Talks in Washington D. C.?

Hier ist eine Sympathie für Imamoğlu nicht zu übersehen. Er wird als eine progressive Figur angesehen. In der US-Hauptstadt wird viel über ihn geredet.

Andere?

Jeder außer Erdoğan, mit Ausnahme von Devlet Bahçeli, würde für die Beziehungen zwischen der Türkei und dem Westen konstruktiv sein. In den letzten 20 Jahren hat sich in der Türkei sehr viel verändert.

Auch in der Nato ist die Türkei nicht mehr das, was es mal war.

Türkei ist jetzt nur mehr auf dem Papier ein NATO-Mitglied. Unter dem Erdoğan-Regime wird sich das auch nicht ändern.

Ist die Mitgliedschaft in Gefahr?

Innerhalb der NATO gibt es keinen Mechanismus, um einen Verbündeten aus der Mitgliedschaft zu entlassen. Die Türkei kann nur frewillig aus der NATO austreten. Das will kein Mitglied. Das würde die NATO schwächen.

In der Türkei gibt es nur einen einzigen hochrangigen Entscheidungsträger, der sich immer wieder offiziell der NATO bekennt: Verteidigungsminister Hulusi Akar. Wie wird er im Übersee gesehen?

Akar ist im Erdoğan-Regime der Verantwortliche für die Beziehungen mit NATO. Er verhindert, dass die Stricke reißen. Es heißt ‘Erdoğan ist destruktiv, Akar ist konstruktiv’. Der Kontakt zu ihm wird bevorzugt.

Er konnte aber nicht verhindern, dass sich Erdoğan der Norderweiterung mit Schweden und Finnland querstellt.

Türkei ist in vielen Bereichen mit der NATO in Konflikt geraten: Iran, ISIS, Ukraine-Krieg, S400 und eine undemokratische Innenpolitik. Durch die Annäherung an Russland entfernt sie sich sowohl von den demokratischen Werten, als auch von den Prinzipien der NATO. Die Türkei widersetzt sich zunehmend auch den wichtigsten Sicherheitsfragen der NATO. Erdoğans Widerstand gegen Schweden ist nicht überraschend, aber natürlich beunruhigend. Für Erdoğan sind die Kurden und Gülen-Anhänger in Schweden das eigentliche Problem. Seit 2016 stellt das ein ernstes Problem für die Beziehung zwischen der Türkei und Amerika dar.

Wie lange wird Biden abwarten?

Für den Kongress und die Biden-Regierung verschwindet die Türkei als NATO-Verbündeter. Sie tritt seit langem nicht mehr als vollwertiger Mitglied auf. Biden hat in seinem Team viele Türkei-Experten und verfolgt das Geschehen seit Jahrzenten sehr genau. Für Republikaner als auch für Demokraten ist es sehr wichtig, dass die Türkei nicht abhanden kommt.

Auch das US-Finanzministerium beobachtet die Türkei sehr genau. Wie sehr wird die Umgehung der Sanktionen gegen Russland die Beziehungen belasten?

Das Thema wird sehr ernst genommen. Zwischen 2012 und 2016 warnte das Finanzministerium unter der Obama-Regierung die Türkei vor Reza Zarrab. Sein Fall ist jedoch kaum mit den heutigen Beschuldigungen im Zusammenhang mit den Russland-Sanktionen zu vergleichen. Der Iran ist für den Westen ein regionales Problem. Russland ist wiederum eine globale Bedrohung. Obwohl die Biden-Regierung auf Diplomatie setzt, wird es früher oder später zu einem Gerichtsverfahren, wenn der Kongress den Fall übernimmt, kommen. Das  wird dann den größten Konfliktpunkt zwischen der Türkei und den USA darstellen.

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