Schmidinger: Unter Erdoğan oder Kılıçdaroğlu – Europa will Stabilität in der Türkei

Die westlichen Mächte würden alles tun, um Erdoğan von der Macht zu trennen. So sehen Erdoğan und seine Anhänger die Welt. Politologe Thomas Schmidinger sieht die Sache etwas anders. Westliche Mächte könnten sich sogar eine Türkei mit Erdoğan vorstellen, nur mit einer Voraussetzung: Stabilität.

BİLAL BALTACI 13 Mayıs 2023 DE

Foto: Privat

“Der Westen, wenn ihr aufpasst, sagt, dass er gegen Erdoğan ist. Diese Front gegen Erdoğan ist eine Front gegen unsere Nation. Meine Nation wird dieses Spiel am 14. Mai beenden”, sagt der türkische Machthaber Recep Tayyip Erdoğan in einer gemeinsamen Live-Sendung der Kanal D und CNN Türk Mitte April. Das sind Sätze, die immer wieder fallen. All jene, die gegen ihn sind, sind für ihn Handlanger des Westen. Ob das wirklich so ist und ob der Westen ein Machtwechsel in der Türkei anstrebt, hat der Politologe Thomas Schmidinger, der sich gerade für eine Gastprofessur in Erbil aufhält, dem Kronos erklärt.

Die Wahlen stehen an. Es wird oft gesagt, dass der Westen gegen Erdoğan sei. Ich denke eher, dass sie derzeit keine Veränderung in der Türkei haben wollen. Was sagen Sie dazu?

Ich glaube nicht, dass der Westen das Regime an der Macht halten will, aber was es gibt, ist diese große Angst vor einer Destabilisierung der Türkei. Das ist natürlich mit der Angst vor Flüchtlingen verbunden. Wenn die Türkei kollabieren würde, wäre das eine Katastrophe für Europa und das würde zu Flüchtlingsströmen führen, die 2015 in Schatten stellen würden.

Wie meinen Sie das?

Wir haben schon mit dem sogenannten Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei Erdoğan zu einem Grenzwächter Europas und uns selbst erpressbar gemacht. Flüchtlingsdeale funktionieren eine Zeit, dann weniger. Jetzt gibt es offenbar schon wieder funktionierende Arrangements mit der Türkei, die uns die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten, aus Syrien, aus Afghanistan usw. vom Hals halten sollen. Das ist eines der zentralen Interessen Europas bezüglich der Türkei.

Nur das?

Die Türkei ist auch weiterhin trotz wirtschaftlichem Niedergang als Billiglohnland und Zulieferer für Europa attraktiv. Insofern haben Deutschland, Frankreich oder Großbritannien kein grundlegendes Problem mit einer autoritären Herrschaft in der Türkei.

Was ist dann für diese Länder wichtig?

Was Europa generell will, ist Stabilität und weitere Westorientierung der Türkei. Die Frage ist, ob Erdoğan das noch bieten kann. Ich gebe dir Recht, dass die mächtigen Staaten Europas im Moment kein grundlegendes Problem mit Erdoğan haben. Diese systematische Destabilisierung der Türkei, wie sie von AKP-Kreisen verbreitet wird, kann man dem Trost des Verschwörungstheorie abtun und das dient der Mobilisierung der eigenen Wählerschaft.

Die eigene Wählerschaft ist das eine, aber auch in anderen Teilen der Bevölkerung ist die Wahrnehmung eines “Opfer”-Erdoğans nicht zu unterschätzen.

Das Grundmuster von der Verschwörung des Westens gegen die Türkei ist nicht etwas, was die AKP erfunden hat, sondern etwas, was große historische Tiefe hat. Die Angst, dass der Westen sich die Türkei unter den Nagel reißt, dass der Westen Konspirationen gegen die Türkei macht, das ist etwas, was genauso frühere türkische Regierungen verbreitet haben, etwas, was man auch in den türkischen Linken und in diversen islamistischen und nationalistischen Kreisen findet.

Sie sind sich nicht sicher, ob Erdoğan Stabilität in der Türkei garantieren kann. Wie schaut es mit Kılıçdaroğlu aus?

Europa hätte sicher auch kein Problem mit Kılıçdaroğlu, wenn er es schafft, wieder Stabilität herzustellen. Die Türkei ist im Moment instabil. Ich würde jetzt noch nicht sagen, dass gleich ein Bürgerkrieg droht. Aber wenn Erdoğan abgewählt werden würde, und die Macht nicht abtritt, dann sind natürlich unterschiedlichste Szenarien möglich und vor dem hat Europa wahrscheinlich die meiste Angst.

Ist Kılıçdaroğlu mit seiner Politik in der EU bekannt?

Ich glaube die meisten Politiker in Europa haben keine politierte Meinung zu ihm. Er ist ein bisschen farblos. Insofern ist er in Europa nicht wahnsinnig bekannt. Er ist tendenziell der Progressivere, die Sozialdemokraten setzen Hoffnungen auf ihn. Wie es mit Konservativen ist, wage ich jetzt nicht wirklich zu sagen. Das Problem ist auch, dass das Bündnis (Millet-Bündnis, Anm. d. Red.) von ihm ein sehr heterogenes ist. Wir wissen nicht, wie sich das nach einem möglichen Wahlsieg weiterentwickeln würde. Einerseits die Kemalisten und anderseits die Rechtsextremen, aber gleichzeitig stillschweigend unterstützt von der HDP, die jetzt als Grüne Linke Partei antritt. Bei denen, die sich wünschen, dass er die Wahlen gewinnt und ihn aktiv oder passiv unterstützen, sind das teilweise sehr diametral unterschiedliche Positionen. Was schon möglich wäre, ist, dass es dann wieder eine Westorientierung der Türkei gäbe.

EU-Beitritt?

Ein möglicher EU-Beitritt der Türkei ist derzeit in weite Ferne gerückt und da müsste sich viel ändern, dass das tatsächlich wieder auf den Tisch käme. Und zwar weniger wegen der Türkei, sondern auch wegen Europa. Weil wir im Moment wahnsinnig auf die Ukraine fokussiert sind und nach dem Brexit den Beitritt eines so großen und bevölkerungsreichen Landes nicht verkraften können, ohne dass die rechtsextremen Parteien einen Anhieb finden. Ich glaube nicht, dass ein EU-Beitritt unmittelbar wieder zum Thema werden würde, wenn Erdoğan abgewählt wird. Was zumindest klar wäre, ist, dass die Türkei in der NATO bleibt und mit diesem Liebäugigen mit Russland wahrscheinlich vorbei wäre.

Wie wäre es mit einem Erdoğan?

Mir erscheint Erdoğan da immer sehr erratisch, was die Außenpolitik betrifft. Er versucht immer seine Westorientierung als Verhandlungsmasse zu betrachten und droht mit Russland-Nähe. Insofern versucht er damit wohl auch die Nato zu erpressen, ähnlich wie er die EU mit den Flüchtlingen erpresst hat. Das geht wahrscheinlich nur bis zu einem bestimmten Ausmaß und das ist etwas, was Europa beunruhigt, weil ein Bündniswechsel in der derzeitigen Situation mit dem Krieg in der Ukraine eine Katastrophe wäre.

Also so weiter wie bisher?

Bei Erdoğan weiß man sicher, mit wem man es zu tun hat. Das Problem ist, dass Erdoğan sich in den letzten Jahren als zunehmend unberechenbarer und erpresserischer Partner erwiesen hat. Da kann es sein, dass es ein Aufatmen gäbe, wenn es einen Partner gibt, mit dem man verlässlicher verhandeln kann und der ist Kılıçdaroğlu.

Wenn man den Flüchtlingsdeal betrachtet, ist Erdoğan schon vertrauenswürdig.

Naja, er hat aber immer wieder neue Forderungen auf den Tisch gelegt. Auch was jetzt den Nato-Beitritt von Schweden betrifft, sind immer wieder neue Forderungen aufgetaucht. Da gilt Erdoğan nicht mehr als der zuverlässigste Partner.

Kann Erdoğan das noch ändern?

Einmal verspieltes Vertrauen ist nicht mehr wiederherstellbar.

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