Migrationsforscher Yıldız: “EU braucht neue Asylpolitik unabhängig von der Türkei”

Das Jahr 2015 wird als eine Zeit der Flüchtlingskrise in Europa in Erinnerung bleiben. Erol Yıldız, Experte für Migration, mahnt zur Neubewertung der Asylpolitik in der EU – unabhängig von der Türkei.

BİLAL BALTACI 26 Eylül 2023 DE

Foto: Bilal Baltacı

Das Jahr 2015 wird in die Annalen der europäischen Geschichte eingehen. Bilder von Tausenden von Flüchtlingen, die über staubige Straßen und reißende Gewässer strömten, um nach Europa zu gelangen, erschütterten die Welt. Die Krise erreichte ihren Höhepunkt, als sich die Länder der Europäischen Union vor eine zentrale Frage gestellt sahen: Wie sollte man mit diesem beispiellosen Ansturm von Menschen umgehen?

Es war ein Jahr, das die europäische Solidarität auf die Probe stellte und eine beispiellose humanitäre Herausforderung darstellte. Als die Welt ihre Augen auf die sich entfaltende Tragödie richtete, begannen die politischen Führer der EU, nach Lösungen zu suchen. Inmitten dieser Krise wurde am 18. März 2016 das EU-Türkei-Abkommen geboren.

Doch die Geschichte hinter diesem Abkommen ist komplexer, als es die Schlagzeilen vermuten lassen. Es ist viel mehr eine Geschichte von politischen und wirtschaftlichen Interessen, als dem Ringen um eine Lösung für eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Experten wie Erol Yıldız, Dekan der Fakultät für Bildungswissenschaften und Leiter des Forschungszentrums für Migration und Globalisierung an der Universität Innsbruck, äußerten schon damals Bedenken. Sie wiesen auf die Menschenrechtsverletzungen hin, die in der Türkei stattfanden, und fragten sich, ob die EU wirklich wisse, was in diesen Ländern geschah. “Das ist auch durch internationale Institutionen nicht kontrollierbar. Wir wissen nicht, wie mit diesen Menschen in der Türkei, in Libyen oder in Tunesien umgegangen wird.”

Der Experte ortet gleich mehrere Doppelmoralen, wenn es in der Europäischen Union um Flüchtlinge geht. “Wenn es um gut ausgebildete Fachkräfte aus Indien oder Kenia handelt, ist es erwünscht. Wenn aus gleichen Ländern Menschen um Asyl bitten, ist es nicht erwünscht”, so Yıldız. Weiters sieht er zweierlei Maß beim Umgang mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. “Vor den Wahlen kritisieren europäische Hauptstädte die Verschlechterung der Menschenrechte in der Türkei. Nach den Wahlen werden Menschen in sein Land abgeschoben.” Sichere Drittstaaten seien nicht sicher. “Kürzlich war ich in der Türkei und spürte den Rassismus gegenüber Flüchtlingen.” Für den Experten wird nicht versucht, Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, sondern nur zu verlagern.

Das Abkommen versprach vor acht Jahren eine Lösung für die Migrationskrise, die Europa zu erschüttern drohte. Im Kern stand der Deal über die Rücknahme von Migranten, die über die gefährliche östliche Mittelmeerroute nach Europa flüchteten. Die EU verpflichtete sich, sechs Milliarden Euro an Hilfsgeldern in die Türkei zu investieren, um Flüchtlingsprojekte zu unterstützen. Im Gegenzug sollte die Türkei die Schleuserroute abriegeln und sich verpflichten, Flüchtlinge zurückzunehmen, die auf den griechischen Inseln landeten.

Supranationale Organisation soll koordinieren

Zunächst schien der Deal zu funktionieren. Die Migrationszahlen gingen zurück, und Europa atmete auf. Doch die Situation änderte sich rasch. Das Abkommen geriet zur politischen Zankapfel zwischen der EU und der Türkei. Tausende Flüchtlinge saßen an der EU-Außengrenze und in provisorischen Lagern fest, unter katastrophalen Bedingungen. Der Flüchtlingsstrom wurde nicht weniger. Zwischen den Jahren 2017 und 2021 sind jährlich beinahe gleich viele Menschen nach Europa gekommen – trotz Pandemie. “Die Festung Europa wird nicht funktionieren, so wie die Mauer von Trump nicht funktioniert hat”, sagt Yıldız. Menschen, die flüchten möchten, fänden neue Wege.

Die Diskussion drehte sich auch um die Abhängigkeit von der Türkei in diesem Abkommen, und Yıldız wog seine Worte sorgfältig ab: “Es ist an der Zeit, alternative Lösungen zu entwickeln, um unsere Abhängigkeit von der Türkei zu verringern. Eine gemeinsame europäische Asylpolitik, die auf supranationalen Organisationen zur Koordinierung von Flüchtlingsströmen beruht und das Asylrecht in der gesamten EU überdenkt, könnte ein Ansatz sein.”

Die Zukunft der Migration in Europa ist zweifellos komplex und herausfordernd. Yıldız brachte seine Besorgnis zum Ausdruck, als er bemerkte: “Die politische Landschaft in Europa ändert sich, und nationale Interessen gewinnen an Bedeutung. Der Experte schloss seine Gedanken mit einem Aufruf zur umfassenden Neubewertung der europäischen Asylpolitik: “Das Recht auf Asyl sollte in der gesamten EU ernsthaft respektiert werden. Angesichts von Hunger und Klimaproblemen in vielen Teilen der Welt müssen wir auch wirtschaftliche Faktoren berücksichtigen. Jetzt ist die Zeit gekommen, die Asylpolitik kritisch zu überdenken und nach fairen und humanen Lösungen zu suchen.”

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