Geologin Anke Friedrich: Entwarnung für Maraş, Risiko in Adana, kein Datum für İstanbul

Anke Friedrich ist nach der TV-Sendung "Teke Tek" in der Türkei mehr denn je gefragt. Menschen wollen mehr über Erdbeben wissen. Die Geologin erklärt im Kronos-Interview wie es mit der Situation in Istanbul aussieht und möchte in der Türkei forschen.

BİLAL BALTACI 01 Mart 2023 DE

Fotos: Bilal Baltacı

Auf dem Tisch liegen Baklava, direkt aus Istanbul, und ein Stein, direkt aus Kahramanmaraş. In der Küche des Departments für Geologie sind Tische zu einem Quadrat zusammengestellt. Auf der anderen Seite sitzt die Chefin, Anke Friedrich. Sie ist gerade aus der Türkei zurückgekehrt und wird überflutet mit E-Mails und Anrufen. “Ich habe eine Firma in Adana. Soll ich sie verkaufen?”, fragt eine Deutsch-Türkin. Ein anderer will wissen, was sie über Istanbul sagen kann. Dieser Andrang ist neu, denn bis vor einer Woche haben nur interessierte Journalisten hier angerufen. Das hat sich geändert, seitdem sie mit dem türkischen Star-Geologen Celal Şengör eine der meistgesehenen TV-Sendungen der Türkei besucht hat. Nun schreiben auch sogenannte einfache Leute aus Deutschland oder der Türkei.

“Teke tek” wird seit 1995 von Fatih Altaylı vorbereitet und moderiert. Foto: Screenshot

Dass sie bei der Sendung “Teke tek” von Fatih Altaylı dabei war, war ein reiner Zufall, erklärt sie. “Wir besuchen uns mit Celal gegenseitig. Nach dem verheerenden Erdbeben in Kahramanmaraş und Gaziantep ergab sich zudem die Gelegenheit, uns wieder auszutauschen”, sagt die Geologin. Als sie im Hause der Şengör’s Tee tranken, klingelten die Telefone eins nach dem anderen. Das starke Nachbeben in Hatay passierte. Alle wollten Şengör sprechen. Şengör nahm die Expertin am nächsten Tag mit nach Beyoğlu, wo sich die Habertürk-Zentrale befindet. Mit ihrer ruhigen Art und ihrem soliden Fachwissen. Kronos spricht mit der Geologin im Department für Geo- und Umweltwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Verschwörungstheorien: Haarp, Lichter, Explosionen etc.

Ein Teil der türkischen Gesellschaft neigt dazu an Verschwörungstheorien zu glauben. Nur wenige Stunden nach dem Erdbeben tauchen bereits Videos auf, die grelles Licht am Himmel und laute Explosionen zeigen. Einige dieser Videos haben nichts mit den Erdbeben in der Türkei zu tun und wurden zu anderen Zeitpunkten bei verschiedenen Naturereignissen aufgenommen. Andere Videos stammen tatsächlich aus der Region und zeigen umgestürzte Strommasten. Nationale und internationale Verschwörungstheoretiker überfluten die sozialen Medien mit Postings. Sogar Devlet Bahçeli, ein Verbündeter von Erdoğan, deutet auf Einmischung externer Kräfte hin und sagt nach seinem verspäteten Besuch in der Region: “Dieses große Unglück scheint mir wie ein Ereignis voller Geheimnisse”. Doch für viele auf den sozialen Medien gibt es keine Geheimnisse – sie nennen es beim Namen: HAARP.

Eine Dozentin bearbeitet die Störungskarte.

HAARP ist eine Forschungseinrichtung des US-Verteidigungsministeriums in der Nähe von Gakona, Alaska. Sie besteht aus einem Netzwerk von Antennen, das hochfrequente elektromagnetische Wellen in die Ionosphäre sendet. Ziel ist es, die Ionosphäre zu untersuchen und zu verstehen, wie elektromagnetische Wellen in der Ionosphäre interagieren. Allerdings gibt es keine wissenschaftlichen Beweise dafür, dass HAARP in der Lage wäre, Erdbeben absichtlich auszulösen. Friedrich betont: “Ich kann wissenschaftlich ausschließen, dass solche Erdbeben mit gezieltem Einfluss des Menschen ausgelöst werden können”, um jedes Missverständnis zu vermeiden. Lautes Krachen und grelles Leuchten melden Augenzeugen von Erdbeben weltweit, so die Wissenschaftlerin.

Zu wenige paläoseismologische Studien

Friedrich äußert die Ansicht, dass es aufgrund der hohen seismischen Aktivität und der langen Geschichte von Erdbeben in der Türkei viele weitere paläoseismologische Studien geben sollte. Diese Forschungen werden von Geologen, Paläoseismologen und anderen Wissenschaftlern gemeinsam durchgeführt und liefern wichtige Erkenntnisse darüber, wie sich die seismischen Aktivitäten in der Türkei im Laufe der Zeit entwickelt haben und wie zukünftige Erdbeben wahrscheinlich sein werden.

Dieser Stein stamm direkt vom Erdbebengebiet und wurde zur Analyse nach Deutschland gebracht.

Einige Experten schlagen vor, Städte wie Antakya an einem anderen Ort komplett neu aufzubauen – eine Idee, die jedoch immense Kosten mit sich bringen würde. Die Geologin Friedrich betont, dass es wichtig ist, die Risse im Erdboden, die durch das Beben entstanden sind, zu untersuchen, bevor sie wieder verschwinden. In einer Live-Sendung widersprach Mustafa Erdik diesem Ansatz und argumentierte, dass es wenig nützt, die Standorte der Risse zu kennen, da sie beim nächsten Beben an anderer Stelle entstehen werden. “Ja, die Risse werden das nächste Mal woanders sein, aber nicht weit weg und die meisten Gebäude werden nicht durch die Risse beschädigt, sondern durch die Bebenwellen, sagt Friedrich. Außerdem seien die Risse der einzige direkte Hinweis auf die Lage der Verwerfungsflächen in der Tiefe, an der die Erdbeben stattfinden. Es sei deshalb wichtig, sich die Positionen jetzt zu merken und dementsprechend zu bauen oder nicht zu bauen. Auf diese Weise müsse man nicht ganze Städte, sondern nur bestimmte Gebiete verlegen.

Die leitende Wissenschaftlerin überlegt sogar an der deutschen Regierung anzuklopfen. Sie könne helfen, wenn Hilfe benötigt wird. Seit vielen Jahren forsche sie schon mit den türkischen Kollegen zusammen und sei sofort bereit das gesammelte Wissen zu vertiefen. “Wir sind wahre Freunde. Als Freunde teilen wir Ihren Schmerz und als Freunde lassen wir Sie in der Not nicht allein”, sagte der deutsche Kanzler Olaf Scholz. Wer weiß, vielleicht sehen wir Friedrich bald mit ihrem Team in Anatolien.

Kommende Gefahr in Istanbul

In der Region um Kahramanmaraş und Gaziantep sei die Gefahr großteils vorbei. Friedrich zeigt auf die nördlichen und südlichen Enden der Störungskarte. In der Region um Bingöl und weiter unten in Richtung Syrien können noch große Erdstöße entstehen. Adana ist wegen einer anderen Störung gefährdet. Ob die zwei großen Erdbeben die Störungen in Adana beeinflussen, wisse sie noch nicht. Dort ist jedoch auch ein Erdbeben zu erwarten. Friedrich will das mit ihrer Arbeitsgruppe erforschen.

Störungskarte nach dem Nachbeben in Hatay.

Störungskarte nach dem Nachbeben in Hatay.

Die Wissenschaftlerin greift häufig auf Metaphern zurück, da sie glaubt, dass dies den Menschen hilft, ihre Erklärungen besser zu verstehen. Meteorologen können vorhersagen, ob es morgen regnen wird oder nicht. Sie können jedoch nicht vorhersagen, ob und wann ein bestimmter Regentropfen auf deinem Balkon landen wird. Dies ist ihre Antwort auf die Frage, wo und wann das Erdbeben in Istanbul stattfinden wird.

Regierungsgebäude in Istanbul wurden schon erdbebensicher gemacht

“Wenn wir uns am 1. Januar unterhalten hätten, hätten wir auch zum Erdbebenrisiko in Kahramanmaraş gesagt, dass es morgen oder auch in 50 Jahren passieren kann”, erklärt die Wissenschaftlerin. Sie kann von der historischen Analyse von Naci Görür viel abgewinnen und glaubt auch, dass Erdstöße an selben Stellen periodisch passieren. Menschen sollen dort nicht in Panik geraten, sondern sinnvolle Vorkehrungen treffen. Gegebenenfalls auch deutsche und andere internationale Bauexperten heranholen. Denn von den Aussagen von Övgün Ahmet Ercan, dass der Erdbeben in Istanbul erst im Jahr 2075 stattfinden wird, halte sie nicht viel. “Wir haben die Technologie zum Bestimmen eines Zeitpunkts nicht”, sagt die deutsche Wissenschaftlerin.

Tafel, Schmierzettel, seismographische Landkarten und verschiedene Stifte. Wie in einer Vorlesung erklärt die Professorin das Geschehen.

Auch wenn sie keine Bauexpertin ist, kann sie empfehlen, dass die Menschen in Risikogebieten die Stärke der Wände und Stahlstruktur darin überprüfen lassen. Bei Häusern, deren Obergeschosse größer gebaut werden als das Erdgeschoss, müsse man einen besonderen Blick darauf werfen, ob die Stützwände tragen. Wenn es neu gebaut wird, sollte man auf die Basisisolierung achten. Ansonsten könne man die bestehenden Gebäude mit dreieckigen oder x-förmigen Stützen verstärken. Es ist ja nicht so, dass diese Sachen überhaupt nicht gemacht werden. “Ich habe beim Vorbeifahren gesehen, dass diese Vorkehrungen bei vielen Regierungsgebäuden schon umgesetzt wurden”, berichtet die Expertin.

Takip Et Google Haberler
Takip Et Instagram
WP2Social Auto Publish Powered By : XYZScripts.com