Türkische Grenze: Hat die bulgarische Polizei Flüchtling angeschossen?

Aufnahmen zeigen, wie ein Flüchtling an der EU-Außengrenze von scharfer Munition getroffen wurde. Analysen des Videos und Augenzeugenberichte legen nahe, dass der Schuss mutmaßlich von bulgarischer Seite abgegeben wurde.

KRONOS 07 Aralık 2022 DE

Unterwegs in der bulgarisch-türkischen Grenzregion: Einige Kilometer vom Grenzzaun entfernt werden die Straßen zu Schotterpisten. Schließlich verbieten Schilder die Weiterfahrt für zivile Fahrzeuge. Ein Fahrzeug der bulgarischen Grenzpolizei scheint ein Militärfahrzeug zu eskortieren. Mit hoher Geschwindigkeit fahren beide in Richtung Grenze. Auf der Ladefläche sind Personen zu erkennen. An manchen Tagen habe er zehn dieser Trucks gesehen, erzählt ein älterer Herr, der letzte Einwohner des Grenzdorfes Granichar. “Sie bringen sie dorthin zurück, wo sie hergekommen sind. Ich weiß nicht was da passiert, aber ich sehe wie sie sie in Fahrzeugen zurückbringen.”

Von Pushbacks, also illegalen Abschiebungen über die Grenze ohne Überprüfung der Einzelfälle, wird in der Gegend immer wieder berichtet. Es ist der 3. Oktober. Die untergehende Sonne blitzt noch durch die Bäume, taucht die verstörenden Szenen, die sich gleich abspielen werden, in warmes Herbstlicht. Eine Gruppe junger Männer wurde, so erzählen sie später, in die Türkei zurückgeschickt, auf die andere Seite des Grenzzauns. Sie rebellieren, fluchen, werfen Steine. Die bulgarische Polizei wird später von “aggressivem und feindlichen Verhalten” sprechen.

Ein Flüchtling filmt mit dem Handy – sowohl den Tumult am Grenzzaun, als auch das, was in den folgenden Minuten passiert: Ein Schuss ist zu hören, man sieht, wie ein junger Mann in schwarzem T-Shirt getroffen wird. Er strauchelt und fällt. Die Kugel trifft ihn in die Brust. Die anderen Flüchtlinge tun was sie können, um sein Leben zu retten. Man hört verzweifelte Rufe, sieht hilflose und hektische Versuche, erste Hilfe zu leisten.

Abdullah beschuldigt Bulgarien

Der junge Mann heißt Abdullah und ist 19 Jahre alt. Er wird in ein türkisches Krankenhaus gebracht und operiert. Der Arztbrief liegt dem ARD-Studio Wien und europäischen Medienpartnern vor. Er bestätigt die Verletzung durch ein Projektil. Die Kugel scheint sein Herz nur knapp verfehlt zu haben. Eine Reporterin macht Abdullah ausfindig, trifft ihn einige Wochen später in der Türkei. Sein Zustand hat sich stabilisiert. Im Interview beschuldigt er die bulgarische Grenzpolizei. Seiner Aussage zufolge tauchten bulgarische Grenzbeamte in einem Fahrzeug auf. Sie hätten erst Warnschüsse abgegeben und dann direkt auf ihn geschossen. “Wenn die Kugel die Vene zerstört hätte, würde ich jetzt nicht mehr leben. Es ist ein Wunder. Ich hätte nie gedacht, dass auf mich geschossen wird. In einem Land, das sich europäisch nennt.”

Eine forensische Analyse des Handyvideos stützt Abdullahs Bericht. Die Analysen eines Audioexperten legen nahe: “Das Spektrum des Mündungsknalls hat eine Spitze bei 1000 Hz, was mit Mündungsknalls in Vorwärtsrichtung von kleinen Schusswaffen wie einer Handfeuerwaffe übereinstimmt.” Laut der Expertenanalyse scheint der Schuss also aus der Richtung gekommen zu sein, in die das Aufnahmemedium, nämlich die Kamera zeigt – also aus Richtung der bulgarischen Seite.

Bulgarien streitet ab

Darüber hinaus gibt es weitere Videos, die die Situation vor dem Schuss zeigen. Auf einem dieser Videos ist auf bulgarischer Seite ein Militärtruck und ein Land Rover Discovery zu erkennen. Beide Fahrzeuge werden von bulgarischen Einsatzkräften im Grenzgebiet genutzt.

Auf die Vorwürfe angesprochen teilt das bulgarische Innenministerium schriftlich mit, am 3. Oktober habe es einen Gewaltausbruch an der Grenze gegeben. Steine seien geworfen und ein Polizist verletzt worden. Von ihrer Seite seien aber keine Schüsse abgegeben worden.

Der Druck an der bulgarisch-türkische Grenze nimmt zu. Allein in diesem Jahr gab es nach Aussage der bulgarischen Behörden mehr als 150.000 Versuche, von der Türkei nach Bulgarien zu kommen.

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