Reinhard Schulze: Fundamentalisten in Israel und Palästina spielen gemeinsam Musik

Der Nahostkonflikt wird in der islamischen Welt schon seit langem mit religiösem Rhetorik gefüttert – jetzt aber auch in Israel. Reinhard Schulze sieht im Kronos-Gespräch die Gründe für diese Änderung im Rechtsruck.

BİLAL BALTACI 13 Şubat 2023 DE

Foto: Screenshot/Verein Medienzentrum

Heute haben zehntausende Menschen in Israel gegen die geplante Justizreform von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu protestiert. Der Politiker will mit seiner frischen rechts-religiösen Regierung die Höchstgerichte kaltstellen und seinen religiös fundierten Kurs fortsetzen. Schon in der vorherigen Amtszeit hatte er Israel zu einem “Nationalstaat für das jüdische Volk” erklärt und das im Grundgesetz verankert. Das betont den jüdischen Charakter Israels vor seinem demokratischen. Bisher war die gängige Formulierung, dass Israel ein “jüdischer und demokratischer” Staat sei. Mehr und mehr findet seine Politik in der Bevölkerung Widerhall. Doch viele betrachten die Entwicklung kritisch. Nach einer Umfrage der Tageszeitung Haaretz im Jahr 2014 halten 68 % der Israelis die Spannungen zwischen säkularen und ultraorthodoxen Juden für die tiefste innergesellschaftliche Konfliktlinie. Kronos spricht mit dem Islamwissenschaftler Reinhard Schulze von der Universität Bern über die veränderten Dynamiken in Israel.

Herr Professor, Netanjahu hat in der Palästina-Politik eine andere Richtung eingeschlagen. Viele Islamisten sagen “was habt ihr denn erwartet”? Wie sehen Sie die Lage?

Im Grunde sind zwei verschiedene Perspektiven zu beachten: die Reaktion auf den Erfolg des rechten Lagers in Israel seitens der palästinensischen beziehungsweise der islamischen Öffentlichkeit und den Prozess, der in Israel selbst stattfindet. Das heißt also die Reaktion, die in Israel auf diesen Machtwechsel oder wie es in Israel heute gern genannt wird Putsch zu beobachten ist. Manche Akteure in der islamischen Öffentlichkeit versuchen zu zeigen, dass die politische, auf die Religion ausgerichtete Perspektive, die jetzt die Regierung Netanyahu zu vertreten vorgibt, eigentlich ein positives Modell darstellen würde, an dem sich auch islamische Politikerinnen und Politiker halten könnten und ausrichten könnten, weil sie sich in der Wertigkeit des religiösen Diskurses bestätigt sehen.

Sie sagen, dass es gut sei, dass es diesen Diskurs gibt und dass der Konflikt zwischen den Religionen und auf religiösen Diskursen gründe, also auf so etwas wie einer gemeinsamen Ebene. Der Konflikt, der dann im rechten Lager ausgehandelt wird, man könnte schon fast sagen, im gemeinsamen „fundamentalistischen Lager“, besteht jetzt in der Konkurrenz zwischen einer jüdischen religiösen und einer islamischen religiösen Interpretation, und manche bei Hamas beispielsweise argumentieren tatsächlich in diese Richtung. Sie sagen: jetzt sind wir auf einer Konfliktebene und kämpfen nicht mehr gegen säkulare oder wen auch immer an, sondern eben gegen einen Staat, der von sich behauptet, religiös zu sein. Damit können wir auch unseren Geltungsanspruch für ein Palästina begründen, das islamisch zu rechtfertigen ist.

Kommt das Tel Aviv nicht gelegen?

Ja, das ist wie ein Konzert zusammen. Es gibt zwei Gruppen, die gemeinsam Musik spielen, aber trotzdem Unterschiede hervorheben wollen. Sie spielen auf derselben Bühne, haben dieselbe Musik und dieselbe Grundidee, die Nation durch Religion auszudrücken. Die Religion trägt die Nation und beeinflusst ihre Sprache und ihren Habitus.

Diese Sicht der Dinge ist in der islamischen Welt das A und O. Überrascht Sie das, dass das jetzt auch in Israel einen Nährboden findet?

Die innenpolitische Entwicklung in Israel ist tatsächlich dramatisch. In Israel hat sich in den letzten Jahrzehnten eine politische Verschiebung von links nach rechts beobachten lassen. Ursprünglich war der Zionismus in Israel ein links orientiertes Projekt. Doch aktuell gibt es fast 60% in der Bevölkerung, die sich unter anderem für ultrarechte, religiöse und ultraorthodoxe Parteien wie Schas aussprechen. Diese politische Veränderung ist die logische Folge eines Prozesses, der vor 30 Jahren begann. Die aktuelle Regierung und die politische Landschaft in Israel werden von einer neuen Generation repräsentiert, die weit rechts steht – man kann das auch eine Art israelischen Trumpismus nennen.

Wie ist dieser Rechtsruck zustande gekommen?

Es begann 1993/94 und erreichte mit der Ermordung von Jitzchak Rabin im Jahr 1995 seinen ersten Höhepunkt. Die politische Rechte in Israel ist jetzt aktiv und versucht, die Macht im Land zu übernehmen, was auch Auswirkungen auf den Konflikt mit der palästinensischen Gesellschaft hat. In den letzten 30 Jahren weigerte sich die israelische Politik, eine konstruktive Palästinapolitik zu gestalten und sah die palästinensische Welt nur als ein reines Sicherheitsproblem. Sie setzen lediglich auf militärische, polizeiliche oder rechtliche Maßnahmen, um die palästinensische Gesellschaft in Schach zu halten. Das ist jedoch unzureichend angesichts der sich dynamisch verändernden palästinensischen Gesellschaft, die eine politische, konstruktive Haltung des Landes, das die Souveränität ausübt, erwartet. Die israelische Regierung scheitert jedoch daran, weil sie keine Vision hat, wie sie mit diesem kleinen Land umgehen soll, das enge und gebundene soziale Verhältnisse aufweist. Man könnte erwarten, dass nach so langer Besatzungszeit die israelische Regierung eine Lösung findet.

Sie haben „Trumpismus“ gesagt. Was meinen Sie damit?

In den letzten Jahrzehnten sind viele Menschen, die starke Verbindungen zu den USA haben, in Israel politisch aktiv geworden. Die politische Kultur, die in den USA entstanden ist, hat sich auch in Israel eingebürgert und man hat den Eindruck, dass man nicht mehr unterscheiden kann, ob man sich in Wisconsin oder in Tel Aviv befindet, wenn man die politischen Diskussionen und Äußerungen von Leuten wie Netanyahu hört. Der Konflikt mit der palästinensischen Gesellschaft wird natürlich von diesem Wandel in Israel beeinflusst.

Apropos USA. USA haben sich sofort blicken lassen. Außenminister Blinken war vor Ort. Die Auseinandersetzung dauert schon seit Ewigkeiten, unter Beobachtung der Amerikaner. Wie groß ist ihre Schuld?

Die USA haben durch ihre politische und finanzielle Unterstützung für Israel einen Einfluss auf die Konfliktlage zwischen Israel und Palästina. Es gibt jedoch auch andere politische und historische Faktoren, die zum Konflikt mehr beitragen.

Wie hat sich die Rolle der Türkei geändert?

Erdoğan hat eine realpolitische Einstellung gewonnen. Er sieht die Sicherheitspartnerschaft mit Israel wichtiger als seine alte Idee, in diesem Konflikt die Führerschaft der Palästinenser zu übernehmen. Das hat auch etwas mit der türkischen Innenpolitik zu tun, bei der sich die nationalistischen Interessen stärken und das islamische Feld immer mehr diesen nationalistischen Ideen unterstellt wird. Da treibt die politische Rechte Erdoğan vor sich her.

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