Bevölkerung altert schnell: Türkei ist kaum vorbereitet

Die Türkei hat eine beispiellose Urbanisierung hinter sich. Das hat demografische Auswirkungen: Noch ist die türkische Gesellschaft jung, aber sie altert schnell. Für das Land kann das zum Problem werden.

KRONOS 22 Kasım 2022 DE

Die Türkei ist eine junge Gesellschaft, aber nur auf den ersten Blick. Während in Deutschland der Anteil der Bevölkerung, der älter ist als 65 Jahre, bei 22 Prozent liegt, sind es in der Türkei nur 9,8 Prozent. Und während in Deutschland jeder zweite älter ist als 46 Jahre, liegt das Medianalter in der Türkei bei 33 Jahren, also deutlich tiefer. Diese Momentaufnahme aber täuscht, wie Rainer Hermann von der Frankfurter Allgemeine berichtet. Denn die türkische Gesellschaft altert in einer Geschwindigkeit, die das Land in den kommenden Jahrzehnten vor enorme Herausforderungen stellen wird.

Türken Çağlar, die an der Hacettepe-Universität in Ankara Sozialpädagogik lehrt und vor allem über Bevölkerungsentwicklung forscht, sagt, entscheidend sei, wie viele Jahre eine Gesellschaft braucht, damit sich der Anteil derjenigen, die 65 Jahre und älter sind, an der Gesamtbevölkerung von sieben Prozent auf 14 Prozent verdoppelt. In den alten Industrieländern Europas habe dieser Prozess meist zwischen 45 und 115 Jahren gedauert. “In der Türkei aber wird diese Verdopplung innerhalb von nur 27 Jahren vollzogen.” Was 2008 begonnen hat, wird bereits im Jahr 2035 ab­geschlossen sein. Während das reiche Europa über eine längere Zeit den Alterungsprozess abfedern konnte, trifft die Verschiebung in der Alterspyramide die nicht ganz so reiche Türkei mit einer ganz anderen Wucht.

Erdoğan: Mindestens drei Kinder 

Der Alterungsprozess sei die Folge einer beispiellosen Urbanisierung, sagt die Professorin. Bei der Gründung der Republik Türkei war die Türkei noch ein traditionelles Agrarland, weniger als jeder Zehnte lebte in einer Stadt. Kinder wurden zur Arbeit auf dem Feld gebraucht, sie besuchten bestenfalls die Grundschule, und so hatte eine Familie meist vier oder fünf Kinder. Jetzt sei es in den Städten nicht mehr so.

Präsident fordert daher immer wieder drei Kinder je Familie. Das Familienministerium in Ankara veranstaltet zum Thema Konferenzen, und auch die Religionsbehörde Diyanet beschäftigt sich in den Freitagspredigten, die sie an alle Moscheen verschickt, mit der Entwicklung der Geburtenzahlen. Abgesehen von einer Einmalzahlung, die der Staat einer Frau ausbezahlt, die eine Arbeit aufgibt und ein Kind bekommt, hat die Regierung bislang aber keine Politik entwickelt, um das Land auf eine alternde Gesellschaft vorzubereiten.

Altenpflege meist privat

Beispielsweise auf die Altenpflege. Der Staat nimmt in seine Pflegeheime zwar finanzschwache Personen auf. Aber die meisten Pflegeheime sind in privater Hand und für die meisten zu teuer. Für die mehr als acht Millionen Türken, die älter sind als 65, stehen derzeit nur 30.000 Pflegeplätze zur Verfügung. Erdogan ruft daher dazu auf, dass die Familien ihre Alten pflegen. Noch immer wohnen 97 Prozent der Alten in ihrer Familie oder nahebei, sagt Çağlar. Nur drei Prozent lebten in einem staatlichen oder privaten Pflegeheim. „Die Türkei braucht endlich eine Altenpolitik, die die Grundrechte der Menschen einbezieht“, fordert Çağlar. Neben der Altenpflege sind die Renten eine Herausforderung.

“Wir haben ein demographisches Zeitfenster, das wird sich jedoch schnell wieder schließen”, warnt Türken Çağlar. Es öffne sich im kommenden Jahr, wenn die Zahl der Erwerbstätigen den höchsten Stand erreichen wird, und es schließe sich wieder im Jahr 2040, wenn der Anteil derer an der Gesamtbevölkerung, die älter sind als 65 Jahre, rasch über 15 Prozent hinaus wächst. In dem Jahr werde auch der Anteil der älteren Bevölkerung erstmals den Anteil der Kinder und Jugendlichen im Alter von bis zu 14 Jahren übersteigen.

Dieses Zeitfenster müsse genutzt werden, damit die Wirtschaft künftig leistungsfähig ist, um die Kosten für die Alten tragen zu können. Dazu aber müsse die Produktivität der Wirtschaft gesteigert werden, was wiederum grundlegende Reformen im Bildungswesen voraussetzt. “Dazu ist es noch ein weiter Weg.”

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