Adile von der überfluteten Donauinsel Ada Kale: “Meine Musiksprache ist Türkisch”

Adile und das verschwundene Paradies: Eine Insel zwischen dem Osmanischen Reich und den Habsburgern, später zwischen Serbien und Rumänien. Heute existiert sie nur noch in Erinnerungen. Adile Gülşen Cafer, deren Name selbst eine Geschichte erzählt, führt uns auf eine bewegende Reise von der Donau bis zur Türkei.

BİLAL BALTACI 06 Eylül 2023 DE

Foto: Privatalbum Adile

In den Herzen vieler Menschen existiert ein besonderes Band, das sie mit den Orten ihrer Kindheit verknüpft. Die Möglichkeit, zurückzukehren, die vertrauten Straßen zu betreten und die Erinnerungen ihrer Jugend wiederzubeleben, ist ein Geschenk, das einige Glückliche erleben dürfen. Doch für Adele Gaefer sollte dies stets ein unerfüllter Traum bleiben.

Ihre Kindheit war geprägt von einer Insel namens Ada Kale, deren Name auf Türkisch “Ada” für Insel und “Kale” für Festung bedeutet. Ada Kale war ein kleines Paradies im Herzen der Donau, ein Ort, an dem die Kulturen verschmolzen und die Zeit stillzustehen schien. Doch dieses Paradies wurde vor vielen Jahren von den Wassern des Donaukraftwerks Eisernes Tor verschlungen.

Die Minarette der Moschee auf Ada Kale ragen majestätisch in den Himmel. Foto: Privatalbum Adile

Adele Gaefer, die eigentlich den Namen Adile Gülşen Cafer trug, hatte eine ganz besondere Beziehung zu diesem Namen. Adile, liebevoll als “Adi” abgekürzt, war ein Name, der von ihrer Familie sorgfältig ausgewählt wurde, um ihre Wurzeln und ihre Herkunft zu ehren. Doch die Launen des Schicksals und die Fehler eines rumänischen Beamten sollten dazu führen, dass ihr Name falsch geschrieben wurde und sie fortan als Adele bekannt war.

Die Geschichte ihrer Familie führte Adele zu einem entfernten Ort in der Zeit und auf der Landkarte, zu ihrem Urgroßvater Yahya Cafer, einem Beamten des Osmanischen Reiches in Aleppo, Syrien. Sein Verlangen, seine Kinder mit einer europäischen Erziehung aufwachsen zu sehen, führte ihn dazu, eine Erzieherin namens Margit Sailer aus Bruck an der Mur zu engagieren. Doch das Schicksal sollte eine unerwartete Wendung nehmen, als er sich unsterblich in Margit verliebte. Ihre Liebe fand ihre tragische Erfüllung, als Margit im Kinderbett verstarb.

Nach diesem schmerzlichen Verlust machte sich Yahya mit einem Diener, einem Kind und zwei Kamelen auf den Weg nach Bulgarien. Dort fand er in einer Witwe mit einem Kind eine neue Liebe und gemeinsam ließen sie sich auf Ada Kale nieder, wo die Geschichte von Adile Gülşen Cafer, genannt Adi, begann.

Im Berliner Kongress vergessen

Im Schatten der großen politischen Veränderungen des späten 19. Jahrhunderts wurde eine kleine Insel namens Ada Kaleh auf der Donau von den Wassern des Vergessens verschlungen. Der Frieden von San Stefano im Jahr 1877-1878, der den Russisch-Osmanischen Krieg beendete, markierte einen entscheidenden Moment in der Geschichte dieser Insel. Doch während dieser Vertrag neue politische Grenzen im Balkanraum festlegte, passierte 1878 ein großer Fehler. “Der Vertrag von Berlin hat die Insel Ada Kaleh scheinbar vergessen”, sagt Olivia Spiridon von Tübinger Universität.

Diese scheinbare Vernachlässigung bei den politischen Verhandlungen führte zu einer einzigartigen politischen Situation, in der Ada Kaleh in einer Art politischer Schwebezustand verweilte. Die “türkische Oase” wurde von einem Müdür aus Istanbul verwaltet und genoss eine gewisse Autonomie, während sie ihre Beziehungen zum Osmanischen Reich aufrechterhielt.

Während des Ersten Weltkriegs wurde Ada Kale von österreichisch-ungarischen Soldaten besetzt, was zu einer Zeit der Unsicherheit führte. Doch nach Kriegsende gewährte der rumänische König Karl eine Freihandelszone auf der Insel, was Ada Kaleh ermöglichte, ihre kulturelle Vielfalt und Handelsaktivitäten fortzusetzen.

Der Zweite Weltkrieg brachte erneut Veränderungen für die Insel, als Rumänien die Seiten wechselte und sich den Alliierten anschloss. Eine sowjetische Besetzung folgte, die Ada Kale politischer Unsicherheit und Verwaltungsänderungen aussetzte.

Das Inselleben auf Ada Kale war geprägt von Einfachheit und einer besonderen Form des Glücks. Strom war nur am Abend verfügbar, und die Inselbewohner hatten sich an diesen Rhythmus des Lebens gewöhnt. Das örtliche Kino mag zwar uralt gewesen sein, aber es bot den Menschen auf Ada Kaleh eine willkommene Unterhaltung. Hier versammelten sie sich, rauchten Zigaretten und plauderten miteinander, während sie sich von den Geschichten auf der Leinwand verzaubern ließen.

Auf dieser Ansichtskarte ist Gencay, die Tochter des Hoca, mit Adile zu sehen. Auf der anderen Seite erstreckt sich in der Ferne das serbische Ufer der Donau. Foto: Privatalbum Adile

Ein weiteres wichtiges Element des muslimischen Insellebens war die Präsenz eines Hoca, eines religiösen Lehrers. Adi hat zwei Hocas erlebt. Beim Ersten wurden Sprachbücher gefunden, darunter solche in Englisch und Französisch. Dies führte dazu, dass er vom kommunistischem Regime verhaftet wurde.

Der zweite Hoca heiratete auf der Insel und entschied sich, dort zu bleiben. Seine jüngste Tochter, Gencay, wurde zu Adiles bester Freundin. Gemeinsam sprachen sie über Träume und vermischten die Sprachen, die sie kannten. Sie sprachen Rumänisch miteinander, teilten aber auch die Freude an der türkischen Sprache.

Das Radio auf der Insel spielte eine entscheidende Rolle im Leben der Bewohner. Es übertrug Musik und Nachrichten auf Türkisch. Adile erinnert sich an eine Zeit, in der es einen Konflikt zwischen der Türkei und Griechenland um die Insel Kreta gab. Diese Ereignisse auf der Weltbühne erreichten auch die abgeschiedene Insel in der Donau und schufen Gesprächsstoff unter den Menschen. Für Adile war Türkisch mehr als nur eine Sprache; es war eine musikalische Melodie, die in ihrem Herzen schwebte. “Wenn ich Türkisch höre, ist das für mich wie Musik. Es ist so, als würde ich es verstehen. Meine Muttersprache ist Ungarisch, aber meine Musiksprache ist Türkisch.”

“Miskin Baba” aus Buhara

Ein weiterer bemerkenswerter Aspekt des Insellebens war Miskin Baba, eine Türbe, der für einen Sofi aus Buhara errichtet wurde. Wenn jemand auf der Insel ein Problem hatte, begab er sich zu dieser Grabstätte, holte Erde von dort und schlief damit. In diesem Schlaf sollten sie die Lösung für ihr Problem träumen. Adiles Großvater Ilyas praktizierte diese Tradition und hatte damit großen Erfolg. Miskin Babas Idee, Bilder zu malen und zu verkaufen, half ihm seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Adiles Großvater Ilyas verkauft Rosen- und Feigenmarmelade in Ada Kale. Foto: Adile

Andererseits wurde Miskin Baba auch als Detektiv verwendet. Eine Frau, der Sachen gestohlen wurden, suchte nach Antworten und sagte: “Ich werde zu Miskin Baba gehen, und er wird mir sagen, wer es war.”

Die Bewohner der Insel pflanzten Weinreben und Obstbäume, darunter auch die berühmten Feigen, die auf der Insel gedeihen. Darüber hinaus gab es Menschen, die sich auf die Herstellung von Lokum spezialisiert hatten, eine beliebte Süßigkeit in der Region. Zudem waren einige Bewohner in der Herstellung von Zigaretten und später von Zigarren tätig, darunter die bekannten “Muslumana”-Zigarren. “Diese Produkte wurden nicht nur von den Insulanern selbst genossen, sondern auch an das rumänische Königshaus geliefert”, sagt die Forscherin Spiridon.

Der Ramadan war eine besondere Zeit auf der Insel, in der köstliche Mahlzeiten zubereitet wurden. Es gab viel Fisch und wenig Fleisch, und in der Moschee versammelten sich die Menschen, um gemeinsam das Fasten zu brechen. Die Moschee auf Ada Kale hatte eine besondere Geschichte. Sie war einst eine Franziskanerkirche, die später zu einer Moschee umgewandelt wurde. “Es gab auch eine mysteriöse positive Energie auf diesem Gelände”, ist Adile davon überzeugt. Eines Tages habe man dort eine Karte gefunden, die wegen dem rumänischen Diktator Nicolae Ceausescu nicht weiter erforscht worden sei.

“Barbarisch zerstört”

Apropos Ceausescu. “Die Diktatur hat Kirchen und Moscheen zerstört”, erzählt Spiridon. Während in Bukarest historische Viertel für den Bau seines monumentalen Palastes niedergelegt wurden, war die Insel Ada Kaleh schon lange unter Wasser. Adile erinnert sich an ihr letztes Mal auf der Insel im Jahr 1967, als sie gerade 16 Jahre alt war. Die Szene, die sich ihr bot, war herzzerreißend. “Niemand mehr da gewesen”, sagt sie und beschreibt die Insel, die einst ihr Zuhause war, als hätte sie sich in ein Kriegsgebiet verwandelt. Polizei und Brot waren Mangelware, und Arbeiter waren gekommen, um die verbleibenden Spuren des Lebens auf Ada Kale zu demontieren. Adile beschrieb diesen Zustand als “barbarisch”. “Sie haben die Insel seelenlos kaputt gemacht.” Die alte Dame ist auch nach Jahrzehnten voller Trauer und Wut. Der Anblick war für sie äußerst schmerzhaft, und ihre Großeltern warteten auf ihre Pässe, um die Insel zu verlassen. Ihr Großvater verstarb nur zwei Jahre nach der schmerzhaften Zwangsumsiedlung.

Spiridon beleuchtet die harte Realität der Umsiedlung der türkischen Bewohner, die mit nur wenigen Habseligkeiten konfrontiert waren und vor die Wahl gestellt wurden, in andere rumänische Städte oder in die Türkei zu gehen. Die Menschen verteilten sich an verschiedene Orte, darunter Turnuseverin, unterhalb des Staudamms am Eisernen Tor, wo heute ein türkisches Kaffeehaus und das Ada Kaleh Museum zu finden sind. Einige zogen nach Konstanza oder Istanbul. Die Umsiedlung führte zu einer Zersplitterung der ehemaligen Gemeinschaft.

“In Gedächtnis der Rumänen ist die Insel immer noch da”, betont Spiridon. Die Bewohner hatten mit den Steinen der ehemaligen Festung ihre neuen Häuser gebaut. Nur auf der Insel Şimian, wo Teile dieser Festung erhalten geblieben sind, wurde ein Stück Geschichte bewahrt. Der Friedhof von Ada Kaleh erfuhr ebenfalls eine herzzerreißende Veränderung, als die Überreste in einem Massengrab in Şimian beigesetzt wurden. “Es hat sich niemand gekümmert”, bedauert Spiridon.

Das Lied von der Ayşe

Trotz all dieser Opfer und Verluste zahlte sich der Bau des Staudamms für das Regime aus, und in nur vier Jahren hatten sich die Kosten amortisiert. Der Damm ermöglichte es auch Schiffen, das seichte Wasser zu überqueren, das um 35 Meter gestiegen war, und trug zur Entwicklung der Region bei.

Aber während der Staudamm das Gesicht der Region veränderte und die wirtschaftliche Entwicklung vorantrieb, blieb von Ada Kaleh nur gebrochene Herzen und ein altes Lied. Die Insel, die einst so lebendig und voller Geschichten war, ruht nun in den Tiefen der Donau, von den Wassern des Fortschritts verschluckt.

Das alte Lied von Ayşe und Dragomir klingt noch heute in den Ohren derer, die von der Geschichte dieser Insel erfahren. “Ada Kaleh, Ada Kaleh, auf deinem bezaubernden Boden blühte die Liebe wie Aprikosenblüten.” Diese Worte sind mehr als nur eine Melodie; sie sind ein Vermächtnis, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Für Adile ist das Lied eine Brücke in die Vergangenheit, eine Erinnerung an ihre unbeschwerte Kindheit auf Ada Kaleh und an ihre beste Freundin Gencay.

Vor einigen Jahren besuchte sie Gencay in Istanbul, wo sie ein ruhiges Leben führte. Doch das Schicksal ist unerbittlich und Adile erfuhr, dass ihre geliebte Freundin nun von dieser Welt gegangen ist. “Alle sind gestorben, nur ich bin übriggeblieben.”

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